Der Vergebungsbegriff in meiner Aufstellungsarbeit

(überarbeitete Fassung 2023)

  

Der Begriff der „Vergebung“ spielt in meiner Aufstellungsarbeit und damit auch in der Art und Weise, wie ich diese Arbeit in meinen Aus- und Weiterbildungen vermittle, die zentrale Rolle. Dabei handelt es sich um ein Verständnis von Vergebung, das wenig damit zu tun hat, wie dieser Begriff üblicherweise benutzt wird. Ich unternehme hier den Versuch, das Wesen dessen, was Colin Tipping „Radikale Vergebung“ genannt hat und das man auch als „Wahre Vergebung“ bezeichnen kann, etwas genauer zu bestimmen.

Im Kontext von therapeutischen Aufstellungen, wie ich sie anbiete und in meinen Weiterbildungen vermittle, sollte die Person, die die Aufstellung leitet, einen bewertungsfreien Raum schaffen können, damit die sogenannte "Weisheit des Feldes" auftauchen und in heilsamer Weise zum Tragen kommen kann. 

Die Arbeitsformen der Aufstellungsarbeit und die Führungsstile der jeweiligen Aufsteller haben sich in den letzten Jahren sehr ausdifferenziert und weiterentwickelt. Diese Veränderungen reichen von den sogenannten statischen Aufstellungen mit deutlichen Eingriffen des Aufstellers hin zu den bewegten Aufstellungen, in denen die Einwirkungen des Leiters zu Gunsten der Eigenbewegungen der Protagonisten sehr zurückgenommen wurden. Die Unterstellung ist dabei manchmal, dass die spirituelle Kraft der Aufstellungsarbeit in der bewegten Form mit geringerer Führung durch den Leiter stärker zum Ausdruck kommen kann.

Die spezielle Ausstrahlung der Aufstellungsarbeit entsteht durch das immer wieder eindrucksvolle Auftauchen von Informationen aus dem generationenverbundenen System desjenigen, der ein Anliegen bearbeiten lässt. Die Menschen, die als Protagonisten aufgestellt werden, tauchen in dieses System ein und wirken damit in einem wissenden Feld, das auf diese Weise für alle Beteiligten erfahrbar wird. Dieses Wissen kann dann dazu genutzt werden, die bisher verborgenen Anteile der familiären (systemischen) Konfliktdynamik zu beleuchten, zu entschlüsseln und sie so für Lösung und Heilung nutzbar zu machen. Dieser Blick auf das systemische Geschehen im Hintergrundfeld desjenigen Menschen, der sein Anliegen aufstellen lässt, ermöglicht ihm ein Verständnis der wirklichen Zusammenhänge der Konflikte und Symptome, die ihn belasten und die er bisher als sein individuelles Problem verstanden hat. Dass dieses Hintergrundfeld möglichst umfassend auftauchen kann, ist aus meiner Sicht nicht so sehr von der gewählten Arbeitsform abhängig, sondern vielmehr von der Haltung des Aufstellungsleiters bzw. der Leiterin. Dazu gehört in erster Linie die grundsätzliche Überzeugung einer allumfassenden Verbundenheit, weil nur dadurch ein Verständnis dafür ermöglicht wird, wie es dazu kommt, dass diese Informationen in solch faszinierender Weise auftauchen können und welche Wirkungen sie erzeugen. Im Weiteren sollte diese Haltung geprägt sein von einer möglichst vorwurfsfreien Akzeptanz sich selbst gegenüber. Je weniger unbearbeitete Persönlichkeitsanteile durch die Person, die die Aufstellung leitet im Feld sind, desto weniger Störungspotential entfaltet sich und desto klarer können die Zusammenhänge aus dem Herkunftssystem der/des Klientin/en auftauchen. Die Akzeptanz der eigenen Persönlichkeit ist Grundlage einer vorbehaltlosen und urteilsfreien Offenheit dem aufgestellten System gegenüber, in dem oft schwierige bzw. schwer hinnehmbare Ereignisse auftauchen.

Um diese offene urteilsfreie Haltung zu erlangen und sie weiter zu schärfen, ist ein vertieftes Wissen über die Entstehung von menschlichen Störungsentwicklungen und die für deren Auflösung notwendigen Vergebungsprozesse unabdingbar.

Neben der formalen, praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit der Aufstellungsarbeit ist dieser Lern- und Entwicklungsprozess mein Hauptanliegen.

 

Das für diese Arbeit notwendige Vergebungsverständnis fasse ich in folgendem Satz zusammen:

"Ich vergebe mir alles, was ich dir vorwerfe!"

Dieser Satz irritiert in mehrfacher Hinsicht unser gewohntes Denken.

Zunächst einmal hat er -wie gesagt- wenig mit dem herkömmlichen Vergebungsbegriff zu tun, der in der gesellschaftlichen Alltagssprache oder auch in manchen religiösen Zusammenhängen benutzt wird. Sehr überspitzt formuliert, wird Vergebung dort wie eine großzügige Geste des Geschädigten (Schuldlosen) verstanden, der aus der starken Position des „im Recht Seins“ dem schuldhaften Gegenüber etwas (meist nur einen Teil) erlässt. Häufig kommt es sogar zu einer Beschämung bei dem, dem in dieser Form vergeben wird. In diesem Verständnis von Vergebung (wofür auch oft der Begriff Verzeihung verwendet wird), zeigt sich recht deutlich die Beziehungshierarchie, in der die Position des Vergebenden die moralisch Höherwertige ist. Die zugewiesene Schuld bleibt erhalten. Der Vergebende bleibt in Anmaßung großherzig. Besonders deutlich wird dieser Punkt, wenn Vergebung erst dann "gewährt" wird, wenn sich das schuldhafte Gegenüber in irgendeiner Form "entschuldigt" hat. Unter Umständen muss der, dem verziehen wurde, im Nachgang auch noch eine gewisse Dankbarkeit und Demut dem Vergebenden gegenüber deutlich machen.

Wirkliche Versöhnung und Heilung kann dadurch auf beiden Seiten nicht entstehen.

Ich beabsichtige, auf ein anderes Verständnis von Vergebung hinzuweisen, das aus meiner Sicht besondere Bedeutung erlangt, wenn man Systemaufstellungen als eine Bearbeitungsform innerhalb therapeutischer Prozesse einsetzen möchte. Der sinnvolle therapeutische Umgang mit Aufstellungen macht es nötig, die übliche Betrachtungsperspektive, nach der wir voneinander getrennte Wesen sind, zu verlassen und den Blickwinkel zugunsten der Verbundenheit zu ändern. Erst wenn man versteht, dass alles mit allem und jeder mit jedem in Verbindung steht, ergibt sich der notwendige Respekt vor den Ereignissen, die im aufgestellten Feld wirken. Aus diesem Verständnis heraus resultiert dann die Offenheit, die Bedeutung von echter Vergebung verstehen zu wollen und sie dann auch erleichternd und heilend zu erleben. Das bedeutet aber gleichzeitig, vom gesamtgesellschaftlich omnipotent vorhandenen Glauben an die Schuld für den Zeitraum der therapeutischen Betrachtung zurückzutreten. Bei diesem Schuld- und Opferkonzept, handelt es sich um eine Denkweise, die vom Glauben herrührt, wir seien getrennte Individuen, unter denen sich Konflikte als schuldhaftes Geschehen zwischen Opfern und Tätern ereignen. Stattdessen ist es für die Reduktion von Leid hilfreicher, wenn eine Perspektive eingenommen werden kann, aus der heraus man davon ausgeht, dass jedem Geschehen ein Sinn innewohnt, den zu entschlüsseln eine heilsame Veränderungskraft darstellt (Sinnkonzept).

Dies etwas genauer zu betrachten, will ich im Folgenden versuchen.

Vergebung meint in dieser Betrachtungsweise die

"Zurücknahme der Projektion der Schuld"!

Was bedeutet das?

Viele Menschen werden leider sehr früh durch andere Menschen in ihrer Umgebung mit Wertungen, oft mit Abwertungen belegt. Das wird häufig von Erwachsenen zur Fehlerkorrektur und Anpassung der Kinder an erwünschte Formen eingesetzt. Das geschieht teilweise unbewusst, wird aber auch absichtlich eingesetzt. In diesem Fall wird dieser Vorgang "Erziehung" genannt. Geschieht dies durch wichtige Bezugspersonen wie Mutter und Vater aber auch durch andere nahestehende Personen, so haben deren Abwertungen besonderes Gewicht. Ein Kind ist von diesen Menschen abhängig und je jünger ein Kind ist, desto größer ist die Definitionsmacht, die es diesen Menschen zuweist. Erfährt ein Kind solche frühkindlichen Fremdabwertungen und können diese wegen der Abhängigkeit nicht ausreichend abgewehrt werden, müssen sie stattdessen durch Identifikation (Verinnerlichung) in das Selbstverständnis hineingenommen werden. Erfolgen diese systemischen Abwertungen stark und dauerhaft, haben sie traumatisierenden Charakter. Der Vorgang der Umwandlung von Fremdabwertungen in Selbstabwertungen ist ein wichtiger Schritt in der Entstehung schwieriger Lebensentwürfe. Selbstabwertungen sind die entscheidende Grundlage vieler, wenn nicht sogar aller später im Leben eines Menschen auftauchender Belastungen. Ihnen gilt die besondere Aufmerksamkeit in jedem therapeutischen Kontext. Die ursprünglich von außen kommenden Abwertungen ("Du bist nicht gut genug!" etc. und in der besonders verheerend wirkenden Variante: "Du bist falsch und auch selbst schuld daran!") werden geglaubt und ungeprüft als Wahrheit über sich selbst übernommen (introjiziert). Der Grund dafür, dass Menschen solche Abwertungen und Zuschreibungen vornehmen, liegt wiederum in deren eigenen Abwertungs- und Minderwertigkeitserfahrungen. Es handelt sich also um ein systemisches Problem der Weitergabe belastender Erfahrungen.

Abwertende Zuschreibungen bedrohen immer die wichtigste menschliche Motivationsquelle, also diejenige Energie, die jeder Mensch ausreichend erleben muss, um seine Lebenskraft zu nähren und zu stärken. Diese Quelle ist der Wunsch nach Zugehörigkeit. Das bedeutet, dass für jedes Kind die Erfahrung bedingungsloser Annahme in ausreichender Form zur Verfügung stehen muss, um Motivation und Kraft für ein befriedigendes und erfülltes Leben und zur Bewältigung darin auftauchender Krisen zu entwickeln. Ganz ohne Zugehörigkeit ist Überleben als Säugling gar nicht möglich. Die zweite zentrale Quelle der menschlichen Entwicklung ist der Wunsch, sich autonom entwickeln zu dürfen. Eine stabile und umfängliche Autonomieentwicklung ist ebenfalls untrennbar an eine möglichst ungestörte Sicherung der Zugehörigkeit gekoppelt.

Schon bei der Bedrohung des Wunsches nach Zugehörigkeit entstehen Angst, Verzweiflung und Scham, die zwar zu überleben sind, aber eine extreme bis katastrophale Belastung darstellen. Alle Ausgrenzungs- und Mobbingprozesse, die Menschen erzeugen, sind dadurch gekennzeichnet. Je nach Ausmaß müssen die begleitenden und äußerst unangenehmen Gefühle vom Individuum erträglicher gemacht werden. Um das zu erreichen, muss der Mensch versuchen, das durch die Abwertung beschädigte Selbstbewusstsein in irgendeiner Form zu reparieren. Ein geradezu genialer Mechanismus dafür ist der Vorgang der unbewussten Verleugnung und Projektion. Das bedeutet, dass die erfahrenen und als wahr übernommenen Abwertungen wegen ihrer Unerträglichkeit zunächst verleugnet (abgespalten), also aus dem bewussten Gewahrsein in den unbewussten Schatten verbannt werden. Verleugnung ist aber nur der erste Schritt in diesem Bewältigungsversuch. In der Folge werden diese verdrängten Schattenanteile dann auf andere Menschen projiziert, das heißt, sie werden im anderen gesucht, gesichtet, abgelehnt und bekämpft. Dieser Vorgang ermöglicht die Illusion, dass das Unerwünschte nicht mehr in der eigenen Person, sondern nun im anderen ist. Es erscheint dann so, als wäre der Mensch von allem Unangenehmen befreit. Aus "Ich bin nicht gut genug" wird wieder "Du bist nicht gut genug" und aus "Ich bin Schuld" wird "Du bist Schuld".(Hier entsteht ein Teufelskreis, wenn diese projizierte Botschaft an die eigenen Kinder weitergegeben wird.) Da die eigenen Schattenanteile durch Projektion aber nicht wirklich aus dem Organismus herausgelangen, sondern weiterhin in ihm existieren und danach drängen, angeschaut, überprüft und angenommen zu werden, machen sie sich aus dem Unbewussten heraus als Symptome bemerkbar. Zunächst erscheinen diese Symptome als Ärger oder Groll auf sich und andere, später werden sie zu immer stärkeren Manifestationen im Organismus. Ein abgewerteter Mensch wird somit durch zunächst von außen kommende Abwertungen zu einem sich selbst abwertenden Menschen, ohne dass er für den gesamten Vorgang ein Gewahrsein hat. Die alten unverdauten Problemzusammenhänge, die sich nun dauerhaft im Organismus befinden, suchen jetzt nach Möglichkeiten, erlöst und geheilt zu werden. Da sie nicht mehr im Bewusstsein vorhanden sind, müssen sie sich über Umwege bemerkbar machen, damit sie vom Menschen dieser Heilung zugeführt werden. Diese Umwege bestehen im Wesentlichen aus zwei Formen.

Der Mensch kann erstens unbewusst Konflikte erzeugen, die seiner Ursprungsbelastung ähneln, um dadurch -ebenfalls unbewusst- Situationen zu kreieren, die potentiell eine Möglichkeit bieten, die Lösung der alten Probleme im Hier und Jetzt zu ermöglichen. Er erzeugt solche Konflikte in einer bestimmten Form, in dem er das Mittel einsetzt, durch das er selbst seine Störung erfahren hat und das er deshalb virtuos beherrscht: Er wertet andere ab und weist ihnen Schuld zu. Dieser Angriff ist gewissermaßen ein sehnsuchtsvoller aber paradoxer Versuch der Seele, im neuerlich inszenierten Konflikt endlich auf jemanden zu treffen, der sich nicht täuschen und zur Abwertung verführen lässt, sondern der vielmehr aufzeigt, wie man für seine alte Kränkung Heilung durch den Angegriffenen erfährt, indem dieser das angreifende Gegenüber respektiert, annimmt und somit inneren Halt anbietet. Wie eine tröstende Mutter, die ihr wütendes Kind in den Arm nimmt, weil es die Verzweiflung des Kindes als Ursache für den Ausbruch erkennt und daher selbst nicht wütend wird. In der Regel erfolgt dann im Alltag aber leider die Erfahrung, dass das so nicht funktioniert und es durch Angriff nicht zu Lösungen, sondern zu weiteren und sogar zu sich verschärfenden Konflikten und damit zu Chronifizierungen der alten Muster kommt. In diesem Fall wirkt der Glaube, im Recht und in der Opferrolle zu sein, wie ein Trostpreis.

Ein zweiter Schritt für eine potentielle Lösungsmöglichkeit erfolgt über den Umweg des Körpers. Es entstehen körperliche oder psychische Symptome, die man als verschlüsselte Botschaften bezeichnen kann. Sie sind ebenfalls Ausdruck der Grundproblematik "Selbstabwertung" mit dem grundsätzlichen Potential, die in ihnen verkörperten Symbole zu entschlüsseln, um somit Erkenntnis und Lernen und damit Wandlung und Heilung zu ermöglichen. Für die Entschlüsselung ist es allerdings notwendig, die verdrängten Anteile wieder ins Gewahrsein zu holen, was aber das erneute Fühlen der unangenehmen Gefühle von Verzweiflung und Scham beinhaltet. Dies ist zwar für den nun erwachsenen und im Gegensatz zur Säuglings- bzw. Kleinkindzeit wesentlich widerstandsfähigeren Menschen besser zu verkraften (besonders bei guter Begleitung), wird aber trotzdem als höchst bedrohlich erlebt und deshalb immer wieder abgewehrt. Es erscheint daher oft leichter, symptomunterdrückende Mechanismen von außen einzusetzen, als den Blick nach innen zu richten.

Heilung kann aber nur durch eine Umkehrung des Projektionsprozesses, also durch die Zurücknahme der Projektion der Schuld angeregt werden. Theoretisch lässt sich das als den Versuch beschreiben, seine Abwertung anderen gegenüber als solche zu erkennen (also wieder ins Gewahrsein zu bringen), sie als eigene Schattenanteile zu benennen und zu überprüfen und in ihrer tatsächlichen Dimension als Eigenanteil zu akzeptieren, um sie letztendlich als zugehörig zu sich zu integrieren. Es ist offensichtlich, dass dies kein leichter Gang ist, der auch oft nicht ohne liebevolle Unterstützung zu gehen ist.

Im therapeutischen Prozess geht es um die Fragen: "Was werte ich am anderen ab und wie bin ich selbst so, wie derjenige, den ich abwerte?" Gemeint ist nicht, dass ich genauso sein muss, wie mein Projektionspartner. Es geht hier nur um die Suche dieses Anteiles im eigenen Verhaltensrepertoire.

Bei der Rücknahme der Projektion der Schuld handelt es sich um einen Lernprozess, der fragil und flüchtig ist. Der deshalb immer wiederkehrende therapeutische Satz, der diese Entwicklung beharrlich begleiten muss um möglichst viele Projektionen aufzulösen heißt:

 

"Ich akzeptiere alles an mir, was ich an anderen ablehne".

Das bedeutet, dass der therapeutisch unterstützende Mensch drei wichtige Schritte beim Klienten begleiten muss: Es muss erstens gelernt werden, dass Abwertungen anderen gegenüber immer an den eigenen Gefühlen (Ärger, Verachtung, etc.) zu erkennen sind. Als zweiten Schritt erfolgt die Suche und das Aufspüren der im anderen abgelehnten Anteile im eigenen Organismus und drittens müssen diese unerwünschten eigenen Persönlichkeitsmerkmale als zugehörig zu sich selbst akzeptiert und angenommen werden. Als Beispiel kann man sich vorstellen, man spricht oder denkt abwertend über einen Menschen wegen der Arroganz, die man an ihm wahrnimmt. Der reflektorische Prozess wäre dann festzustellen, dass der Gedanke an die Arroganz des anderen durch eigene ärgerliche Gefühle begleitet wird. Diese emotionale Aufladung ist der Anlass zu verstehen, dass es sich nicht um eine wertfreie Diagnose handelt, sondern um die Abwehr eines eigenen Schattenanteiles. Diese Erkenntnis führt dann zu der Frage nach der eigenen Ausdrucksform arroganter Einlassungen. Die Reflexion wäre dann verkörpert in der Frage an sich selbst: "Wie bin ich eigentlich arrogant?". Findet man dafür Beispiele, also kann man seine eigenen arroganten Impulse wahrnehmen und dann auch noch jetzt und zukünftig "selbstverständnisvoll" an sich als vorhanden akzeptieren, ist der Lernprozess abgeschlossen und ein Konfliktfeld erlöst. 

Auf diese Weise kann deutlich werden, dass Ablehnung anderer Menschen auf Verleugnung und Projektion beruht und nur durch Annahme der eigenen ungeliebten Schattenanteile jedem Angriff die Basis entzogen wird. Konflikte können sich dann reduzieren, der Organismus kann ausheilen.

Klientinnen und Klienten sollten in der Therapie erkennen können, dass Konflikte durch den Akt der eigenen Bewertung im Hinblick auf eine Situation oder einen anderen Menschen entstehen und diese Bewertungen immer auf dem abwertenden Urteil sich selbst gegenüber beruhen. Negative Gefühle (Ärger, Angst, Scham, Wut, Verzweiflung) kommen auf diese Weise zustande.

Auch Kränkung ist demzufolge immer Selbstkränkung. Der Satz: "Ich ärgere mich!" macht das sehr deutlich, wenn man zurückfragt: "Wer macht hier was mit wem?" Da in der Projektion die als negativ erlebten Gefühle durch den anderen ausgelöst zu sein scheinen, wird Angriff als gerechtfertigt angesehen, was wiederum negative Erfahrungen (wie den Gegenangriff) zur Folge hat. Damit wird der gesamte Prozess mit weiterer Angst, Scham und Schuld aufgeladen, die schon der Grund für den Beginn dieses Konfliktprozesses waren. Dies führt wiederum zu einer Verstärkung der Konfliktdynamik. Das reicht bis zum Völkerkrieg und wird besonders deutlich bei der Rachedynamik, die niemals zu wirklicher Erleichterung führt.

Die Lösung besteht im Erkennen der Projektion und das gelingt nur, wenn man in der Lage ist, die eigene Abwertung als Grundlage dafür zu sehen, andere abzulehnen und so mit ihnen in Konflikt zu geraten.

 

Viele Philosophien, geistige und spirituelle Lehren und nicht zuletzt die moderne (Quanten-) Physik thematisieren dies in unterschiedlicher Sprache. Gemeinsam ist dabei der Grundgedanke der Verantwortungsübernahme für den persönlichen aber auch für den kollektiven Schöpfungsakt. Wir erschaffen und kreieren unsere Wirklichkeit stets selbst durch unsere Gedanken und Emotionen und durch die Vergabe von "Sinn und Bedeutung". (Z.B.: Ulrich Warnke, "Quantenphilosophie und Spiritualität - Wie unser Wille Gesundheit und Wohlbefinden steuert", München, 2017)

Das Erkennen der eigenen Urteile beziehungsweise das Aufheben der eigenen abwertenden Urteile ist also ein entscheidender und weil wir anders sozialisiert werden, ein schwieriger und womöglich lebenslanger Entwicklungsprozess.

 

Der "Kurs in Wundern" schreibt in unvergleichlicher Klarheit, dass Urteilen, das jeder Abwertung zugrunde liegt im üblichen Sinne nicht möglich sein kann: "Um irgendetwas richtig zu beurteilen, müsste man sich einer unvorstellbar weiten Bandbreite von Dingen völlig bewusst sein, vergangenen, gegenwärtigen und solchen, die noch kommen werden. Man müsste im Voraus alle Wirkungen seiner Urteile auf jeden und auf alles, was irgendwie damit zu tun hat, erkennen. Und man müsste sicher sein, dass es keine Verzerrungen in der eigenen Wahrnehmung gibt, so dass das Urteil gänzlich gerecht wäre jedem gegenüber, auf dem es jetzt und in der Zukunft liegt. Wer ist in der Lage, das zu tun? Wer würde dies für sich in Anspruch nehmen, außer in größenwahnsinnigen Phantasien?“ (Ein Kurs in Wundern, Handbuch für Lehrer, Kap.10. Wie wird Urteilen aufgegeben? S.27).

 

"Ich vergebe mir alles, was ich dir vorwerfe.", und seine Umkehrung:

"Ich vergebe dir alles, was ich mir vorwerfe.",

meint in diesem Sinn, die Aufhebung des Urteils und der Schuld sich selbst gegenüber (Selbstvergebung) als notwendige Grundlage der Aufhebung des Urteils und der Schuld dem anderen gegenüber. Oft wird fälschlicherweise davon ausgegangen, dass man zunächst seinem Gegenüber vergeben muss und dann erst Vergebung für sich selbst einsetzt. In diesem Irrtum liegt der Grund, warum diese Form falsch verstandener Vergebung nicht funktioniert. Das Missverständnis von Vergebung jemanden gegenüber habe ich am Anfang dieses Aufsatzes zu beschreiben versucht. Wenn jemand seine Selbstabwertungen aufgibt, also sich selbst vollständig und ohne Einschränkungen akzeptiert, kann jeder Mensch um ihn herum so scheinbar verwerflich sein, wie er will und vorwerfen, was er möchte. Sein Tun kann ein autonomes Gegenüber nicht abwerten. Es zeigt lediglich seinen aggressiven Versuch der Bewältigung unangenehmer eigener Erfahrungen durch Verleugnung und Projektion. Das heißt, sein abwertendes Verhalten entstammt seiner eigenen Selbstabwertung.

Bleibt man ohne Urteil, wird es möglich, das anzuerkennen, was geschehen ist. Damit wiederum wird die rückwärts gebundene emotionale Energie (Ärger und Groll) wieder frei und Handlungsspielraum entsteht. Hilfreich ist hier die grundlegende Einlassung: "Alles, was in meinem Leben geschieht, ist zunächst innerhalb des Systems erschaffen worden, dem ich zugeordnet war und bin. In der Folge habe ich als Bewältigungsversuch einen eigenen Schöpfungsweg eingeschlagen, indem ich durch meine Gedanken, Ideen, Worte, Wünsche und Handlungen Situationen kreiert habe, die lösungsorientiert waren, wegen meiner Unbewusstheit aber problemverstärkend gewirkt haben. Alles, auch das Unangenehme, das ich erschaffe, stellt immer eine potentiell sinnhafte Erfahrung dar, die von Bedeutung für mein Lernen und damit für mein Leben ist." Es gibt somit keinen Grund für einen Vorwurf anderen gegenüber, weil der andere (besonders der "Konfliktpartner") innerhalb des eigenen unbewussten Schöpfungsprozesses, also im eigenen Schöpfungs-Auftrag vollzieht, was notwendig und für die eigene Entwicklung wichtig und richtig ist. Das gilt auch und besonders, wenn sich der Sinn des Geschehenen im Moment des Konfliktes noch nicht erschließt.

Wenn man dieser Betrachtungsperspektive folgt, wird Vergebung nach außen (also anderen gegenüber) unnötig, da dies die Einsicht ist, dass es nichts zu vergeben gibt, weil alles Geschehene für die eigene Entwicklung sinnhaft war und ist. Wie tiefgreifend anders dieses Denken ist, wird deutlich, wenn ich es folgendermaßen zumute: "Der andere oder die anderen waren meiner Lernentwicklung durch ihr "schuldhaftes" Verhalten dienlich. Ich habe sie gebraucht, damit sie mir diesen Dienst erweisen und mir für diesen Konflikt zur Verfügung standen. Ihnen gilt mein Dank, dass sie das für mich auf sich genommen haben".

Wahre Vergebung ist in diesem Verständnis ein Prozess der Einsicht, dass nichts geschehen ist, was einer Vergebung bedarf.

Sie hebt sich damit als Vorhaben selbst auf und führt zu einem Zustand inneren Friedens und wirklicher Versöhnung. Verbundenheit wird auf diese Weise heilsam erfahrbar. Angriff findet nicht mehr statt.

Dies ist der oben beschriebene Wechsel in der Betrachtung vom Schuld- oder Opferkonzept, als Glaube daran, dass Schuld existiert, hin zum Sinnkonzept als das Wissen um die grundsätzliche Sinnhaftigkeit jedweden Geschehens. Das Geschehene kann als zugehöriger Teil meines Lebens angenommen und sein Sinn entschlüsselt werden.

Für viele Menschen ist dieses Vergebungsverständnis schwer zu erfassen. Manche versuchen aus der verstandesmäßigen Einsicht, dass Vergebung für Heilung wichtig ist, jemanden zu vergeben, bleiben aber dabei im alten Schuldkonzept verhaftet. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Versuch, dem anderen gegenüber etwas zu vergeben immer untauglich bleiben muss, also weder konfliktlösend ist noch im eigenen Organismus entlastend und heilsam wirken kann, weil er immer noch davon ausgeht, dass etwas Schuldhaftes geschehen ist. Der Glaube an Schuld und die Suche nach Schuldigen, entstammen einem juristischen oder einem moralphilosophischen Denken und haben dort ihre Bedeutung. Innerhalb eines therapeutischen Entwicklungsprozesses muss diese Betrachtungsperspektive vollständig verlassen werden. Heilung kann nur entstehen, wenn alles das, was mir zu geschehen scheint als eigene (persönliche oder systemische) Schöpfung und als grundsätzlich sinnhaft betrachtet und untersucht wird. Der Blick auf den eigenen Schöpfungsprozess heißt zu lernen, das eigene Wirken ohne Urteil (also ohne Schuldzuweisung) anzuschauen. Dieses "Anschauen ohne Urteil" ist bereits der Vergebungsakt.

Im Alltagsgeschäft wird dieses Verständnis als ungeheure Zumutung erlebt. Oft wird eben nicht bzw. nicht konsequent ohne Urteil angeschaut, sondern es werden im Gegenteil wieder neue Schuldzuweisungen und Vorwürfe (auch und gerade sich selbst gegenüber) vorgenommen: "Wenn es mein Schöpfungsakt ist, bin ich auch selbst schuld. Und wenn ich noch zu klein war, muss jemand anderes Schuld sein". Hier wird auch oft als kritischer Hinweis angemahnt, dass man insbesondere Kindern mit frühen Symptomen oder äußerst belastenden Erfahrungen (Übergriffe, Missbrauch, Behinderung) ja kaum einen eigenen Akt des Erschaffens zuweisen kann. Diese Argumentation ist aus dem gewohnten Schuld-Opferdenken heraus auch absolut einleuchtend. Natürlich kann es nicht darum gehen, einem Kind "Schuld durch Erschaffen" zuzuweisen, da aus individueller Sicht die belastenden Erfahrung im System begründet waren, also durch andere erschaffen wurden. Erst im Verlauf des sich weiter entwickelnden Lebens kommt es dann zu den oben beschriebenen persönlichen Bewältigungsversuchen, die neue Probleme schaffen. Es geht aus der therapeutischen Perspektive eben nicht um die Umkehr in der "Täter-Opfer-Verantwortung", sondern ausschließlich um einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung "Sinn versus Schuld". Das hier dargestellte Vergebungsverständnis als Blick auf den eigenen Schöpfungsakt und der Sinnhaftigkeit des Geschehens dient ausschließlich dazu zu erkennen, dass ein Mensch wieder handlungsfähig wird, wenn er die eigenen im Konfliktgeschehen eingewobenen Entwicklungsanteile betrachtet und annimmt, weil er dadurch Zugriff auf Veränderung und Linderung hat. Als Opfer der Umstände oder anderer Menschen ist man abhängig von Ereignissen bzw. vom Verhalten dieser Menschen und damit hilflos. Daher stammt übrigens auch der für viele Konflikte verantwortliche Wunsch, andere ändern zu wollen. Geht man von der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit jedes Geschehens aus, eröffnen sich Fragen, die wirkliches Veränderungspotential haben: "Wofür steht das Leiden, also die unerträgliche Erfahrung, die belastenden Symptome oder die Behinderungen und welche Bedeutung haben sie für das gesamte System?". Das Kind ist dabei diejenige Person, die etwas für das belastete System ausdrückt und erlebt und ist damit selbst Symptomträger, dessen Erfahrung eine Entwicklungsmöglichkeit darstellt. Erschaffender ist hier also das System selbst und zwar durch die Wechselwirkung und ein Zusammenfinden der verschiedenen Schöpfungsprozesse seiner Mitglieder. Hier wird die Bedeutung eines umfassenden Verständnisses von Verbundenheit besonders notwendig. Was vorher im Text als Prozess des einzelnen Menschen beschrieben wurde, tritt hier in seiner kollektiven Bedeutung auf. Das gleiche gilt auf der nächst komplexeren Ebene größerer Systeme wie Vereine, Parteien, Religionsgemeinschaften, Völker und Menschheit. Das betroffene Kind bzw. der betroffene Mensch hat zwei Optionen. Er kann in seinem Leben die ungelösten Konflikte seiner Familie weiter tragen und sich damit weiterhin als belastet und eingeschränkt, also als Opfer erleben. Er hat aber auch ebenso gut die Möglichkeit, die ungeklärten Zusammenhänge, die in seinem Leiden verschlüsselt sind, im Verlauf seines sich entwickelnden Lebens zu entschlüsseln und aufzulösen. Im Grunde geht es immer um das Heraustreten aus dem Opferstatus, indem die rückwärtsorientierten vorwerfenden Emotionen (Wut, Verachtung, Hass) bewusst erlebt und in ihrer aktuell schädigender Wirkung erkannt und aufgelöst werden. Erst durch die Annahme der frühen Ereignisse als in irgend einer Form als bedeutsam für das System und die eigene Entwicklung, kann Heilung und Lösung für das alte Familien- oder Gruppengefüge eintreten. Weil durch diese Integration aber auch die systemische Weitergabe unterbrochen wird, entsteht darüber hinaus Entlastung für die zukünftigen Mitglieder des sich weiterbewegenden Systems. Dabei ist besonders wichtig zu verstehen, dass Annahme des Geschehenen nicht bedeutet, dieses Geschehen plötzlich in irgendeiner Form positiv zu beurteilen. Annahme heißt eben nicht "Gutfinden", sondern lediglich die urteilsfreie Einordnung als Teil der eigenen Geschichte.

Damit stellt die hier diskutierte Sichtweise eine parallele Bewusstseins- und Betrachtungsebene dar, neben der die "Alltagswahrheit" durchaus aufrechterhalten werden kann. Politisch-gesellschaftliche, juristische oder moralische Kategorien des Alltags bleiben auf ihrer Ebene gleich gültig bestehen. Das gilt natürlich auch, wenn beispielsweise im Helfersystem eines Kindes (etwa in pädagogischen oder therapeutischen Zusammenhängen) vermutet oder erkannt wird, dass das Kind belastenden Ereignissen und aktuellen Übergriffen ausgesetzt ist. Vergebung bedeutet dann nicht, diese Zustände zu dulden. Hier muss in entsprechender Form für das Kind schützend agiert werden. Vergebung wird für die Aufarbeitung dieser Umstände als Betrachtungsperspektive wichtig, wenn das Kind diese Erfahrungen aufarbeiten möchte. Bleibt ein Mensch im Vorwurf an seine Vergangenheit und den dort agierenden jeweiligen Repräsentanten des Herkunftssystems verhaftet, führt das zu den oben beschriebenen unbewussten Bewältigungsmechanismen, die wegen ihrer Unbewusstheit nicht kontrolliert ablaufen und zu neuen Problemen und Belastungen führen. Hier ist Bewusstheit und Annahme, verstanden als Akzeptanz, dass es geschehen ist und Bedeutung hat, die einzige Lösung.

Das gilt auch für scheinbar normale Konflikte des Alltags. Selbstverständlich möchte man von der Versicherung des Unfallgegners den Schaden am eigenen Fahrzeug bezahlt bekommen, wenn dieser verkehrsrechtlich der Unfallverursacher war. Darüber hinaus kann es aber der eigenen Entwicklung dienen, sich zu fragen: "Wofür steht dieser Unfall (und seine Folgen)?". "Woran hindert er mich?". "Wozu bringt er mich?". "Worin könnte sein Sinn bestehen?". "Wie habe ich dazu (vielleicht unwissentlich) beigetragen?". Durch diese Betrachtung legt man die Opferrolle ab und gewinnt Handlungsfähigkeit, wo vorher Hilflosigkeit war. (Colin C. Tipping, Ich vergebe - Der radikale Abschied von Opferdasein, Bielefeld 2004, 2. Auflage 2008).

 

Ich gehe soweit zu sagen, dass auch verantwortungsvolles politisch-gesellschaftliches Handeln nur wirklich gelingen kann, wenn es aus einer bewussten und vergebenden (also nicht Schuld zuweisenden) Perspektive heraus geschieht. Dann erst kann politisches Agieren als "Rechthaben" und "Recht-durchsetzen-Wollen" beendet werden. Stattdessen können sowohl die eigenen Motive, als auch die Bedürfnisse des jeweiligen Feldes, das als veränderungswürdig eingeschätzt wird, angemessen in den Blick genommen werden. Es muss dann eben nicht mehr aus dem Schatten heraus agiert werden. Durch die eigene Entwicklung zu immer mehr bewusstem Umgang mit Impulsen und Motiven sinkt auch die Gefahr, für Strömungen anfällig zu sein, die falsche Zugehörigkeit versprechen. Politischer Machtmissbrauch findet ja genau auf der Ebene statt, dass man Menschen in ihrer Unbewusstheit anspricht, ihnen Angst macht und sie dann damit manipuliert, dass sie keine Angst mehr haben müssen, wenn sie nur glauben und tun was man von ihnen verlangt. Als Sahnehäubchen ermöglicht man ihnen als Belohnung für ihre Anpassung dann noch die ersehnte Erfahrung von Zugehörigkeit indem man diejenigen, die nicht folgsam sind, zu Außenseitern oder Feinden erklärt und ihnen diese Zugehörigkeit abspricht. Menschen mit einer gesunden Autonomieentwicklung sind für solche Versprechen von "Scheinzugehörigkeit" wesentlich weniger anfällig.

 

Es ist im Alltagsgeschäft ein sehr schmaler Grat zwischen der Zumutung der Frage nach dem Sinn des eigenen Erschaffens und dem Missverständnis, diese Frage als Schuldzuschreibung zu verstehen.

Nimmt jemand diesen fatalen Umdeutungsprozess vor, wird auch der Blick auf psychosomatische Zusammenhänge erschwert, und zwar dann, wenn die Frage der Selbstverantwortung und des Perspektivenwechsels im Symptomverständnis (welchen Sinn macht das Symptom in meinem Leben?) aufgeworfen wird. Wehrt der Klient diese Perspektive ab, in dem er die Frage nach der eigenen Schöpferkraft durch die ärgerliche Zurückweisung: "Willst du sagen, ich sei selber schuld an meinen Symptomen?" ersetzt, wird Heilung und Entwicklung unmöglich bzw. der Entwicklungsprozess erheblich verzögert.

Gerade für Menschen in therapeutischen Berufen stellt die Beleuchtung des Vorgangs von Verleugnung und Projektion und seine Umkehrung (Sinnbetrachtung statt Schuldermittlung) eine unverzichtbare Perspektive dar, insbesondere im Hinblick auf die eigene Selbstbewertung.

Der therapeutische Prozess, hier verstanden als eine nach innen gerichtete Betrachtung der eigenen Bedürfnisse und Impulse, wird durch die Übernahme der frühen Außenabwertung in die Selbstablehnung kompliziert und langwierig. Der Grund dafür liegt darin, dass die Selbstabwertung mit zunehmendem Alter immer stärker zum festen Bestandteil der eigenen Identität wird. Eine Korrektur oder gar die Aufgabe eingefahrener Bewertungs- und vor allem Selbstabwertungskategorien wird damit zu einer immensen Bedrohung des Selbstbildes und des eigenen "Soseins".

Einerseits birgt der hier dargestellte Vergebungsbegriff im therapeutisch-unterstützenden Umfeld enorme Veränderungskraft, weil er aus der allgegenwärtigen Hilflosigkeit, die jedem größeren Problem zugrunde liegt, herausführt. Andererseits ist auch klar, dass wir im Alltag unzählige Entscheidungen fällen müssen, die selbstverständlich auf unserem Urteil beruhen (In welcher Form und Ausprägung gefällt mir etwas und was ist meinen Bedürfnissen angemessen?). Es geht also nicht um allumfassende Urteilslosigkeit, sondern um ein Gewahrsein für die Differenz der verschiedenen Entscheidungsebenen und ihrer Bedeutung im menschlichen Kontakt. Therapeutische Professionalität bestünde dann darin zu wissen, dass das eigene Urteil auch bei guter Schulung immer auf einer höchst selektiven Wahrnehmung beruht, die noch dazu in einem Kontext stattfindet, der sich nur fragmentarisch erschließt.

Meine persönliche Erfahrung in Therapie, Beratung und Weiterbildung ist: Je mehr ich als Therapeut in der Lage bin, meine eigenen Urteile wirklich wegzulassen (also nicht nur, sie gut hinter einer freundlichen Fassade zu verstecken), desto eher gelingt es mir, mit meinem Gegenüber den möglichen Sinn schwer hinnehmbarer Ereignisse ohne die Frage nach der Schuld zu beleuchten. Der Sinn therapeutischer Prozesse besteht darin, einem Menschen zu ermöglichen, seine belastenden Erfahrungen als zugehörig zu sich anzunehmen und besonders die daraus resultierenden Selbstabwertungen kennenzulernen und diese letztlich als Grundlage aktueller Konflikte zu verstehen. Gelingt dann die allmähliche Loslösung von den Selbstabwertungen, wird es möglich, eine stabile Autonomie zu erlangen, die gleichzeitig zu der Erfahrung einer unzerbrechlichen Zugehörigkeit zu sich selbst und damit zur gesamten Schöpfung führen kann.